Der Privatmann

Johann Wolfgang Goethe - wie man ihn sonst kaum kennt

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 4 Min.
Sein Tag begann zeitig. Er stand gegen sechs auf, manchmal schon um fünf, frühstückte, nahm dazu sein Wasser und abwechselnd Kaffee, Schokolade oder Fleischbrühe und begab sich anschließend, wenn er nicht auf Reisen war, mit Sekretär oder Schreiber ins Arbeitszimmer, wo er den langen Vormittag über diktierte. Das Mittagessen, häufig mit Gästen, nahm er erst nach 14 Uhr oder noch später zu sich. Man aß gut und reichlich am Frauenplan (denn aufs Abendbrot wurde verzichtet), dazu gab es in der Regel Wein. Danach unterhielt man sich, im Garten oder im Haus, diskutierte politische und literarische Fragen oder Kunstgegenstände, die Goethe gerade erworben hatte. Später, nicht zu spät freilich, klang der Tag mit einem Spaziergang im Park, einem Theaterbesuch oder einigen Seiten Lektüre aus.
Wir verdanken solch detaillierte Anschauung einem der besten Goethe-Kenner des vorigen Jahrhunderts. Erich Trunz (1905- 2001), Herausgeber einer großartigen Goethe-Edition (nach dem damaligen Verlagsort Hamburger Ausgabe genannt), hat in einem akribischen Aufsatz einen Tag aus Goethes Leben beschrieben. Der vorzügliche Text, faszinierend in seiner souveränen Verarbeitung weit verstreuten Materials, liest sich wie eine gute Erzählung. Der 12. April 1813 war schön und angenehm warm. Ins Arbeitszimmer schien die Sonne. Am Tisch saß John, sein 24-jähriger Schreiber, während Goethe stand oder auf und ab ging. Alles war so, wie es Johann Joseph Schmeller 1829 gemalt hat. Man war mitten im dritten Teil von »Dichtung und Wahrheit«, in einer Passage, die den Autor vor keine besonderen Probleme stellte. Er musste sich nur in den jungen Mann versetzen, der er vor vier Jahrzehnten war, und erzählen, wie er damals nach Wetzlar kam und fürchtete, in eine »sauertöpfische Gesellschaft« zu geraten. Glücklicherweise war die Sorge bald vergessen. Er fand einen Kreis junger Leute, in dem er sich gleich geborgen fühlte. Goethe, hoch konzentriert, kam mit seinem Diktat gut voran. Niemand störte. Draußen, hinter der Gartenmauer, fuhr hin und wieder ein Pferdewagen vorbei. Sonst war es still. Der Vormittag wurde diesmal besonders lang, und der Lebensbericht wuchs um ein ergiebiges Stück.
Trunz zeigt uns den 63-jährigen Dichter, wie man ihn selten zu sehen bekommt: in seinem Alltag, bei der Arbeit, in den Unterhaltungen bis hin zu den Augenblicken der Entspannung am Abend. Es war ein Tag, wie er ihn liebte, angenehm und produktiv, mit Arbeit, etwas Bewegung im Freien, Gesprächen, etwas Lektüre. Keine Amtsgeschäfte, keine Verpflichtungen am Hof, kein unverhoffter Besuch. Goethe war zufrieden. Er ging nach einem Spaziergang im Mondschein, um am nächsten Morgen wieder frisch zu sein, früh ins Bett. Vermutlich schlief er rasch und leicht ein. Auch das hat Trunz aus den Quellen herausgelesen.
Der Aufsatz bildet Anfang und Hauptstück eines Bandes, der zu den schönsten Stücken neuerer Goethe-Literatur gehört. 1990 erstmals erschienen, ist er soeben, zum 175. Todestag des Dichters (und flankiert von drei besonders preiswerten Bänden der Hamburger Ausgabe), erneut vorgelegt worden. Das Buch, sympathisch, weil es die akademische Pose nicht kennt und das Wissen des Fachmanns in einfachen Sätzen unterbringt, bündelt acht Studien zu weit gefächerten Themen: über den Sammler, die späte Lyrik, die Arbeit an der Hamburger Ausgabe oder das Haus am Frauenplan, das zu Goethes Zeiten innen denn doch ein bisschen anders aussah als heute.
Den Tagesablauf des Dichters schildert auch Gero von Wilpert, knapper allerdings, gedrängter, zusammengefasst auf lediglich einer Druckseite. Wilpert, der uns 1998 schon ein unentbehrliches »Goethe-Lexikon« geschenkt hat, antwortet in einer schmalen Broschur auf die 101 wichtigsten Fragen zur Person, Fragen, die sonst allenfalls am Rande berührt werden. Hier, auf diesen 160 Seiten, steht alles, was man schon immer wissen wollte und noch nie in einem einzigen Buch, zumal auf so engem Raum erfahren konnte: ob Goethe Humor hatte, ob er ein Egoist war, ob er Bier trank, was er anzog, wie er's mit dem Sex hielt, ob seine Ehe klappte, wie er seine Verleger behandelte, ob er von seinen Einkünften als Schriftsteller leben konnte, unter welchen Krankheiten er zu leiden hatte.
Wilpert, alles andere als ein nüchterner Spezialist, zeigt uns den Mann hinter dem Werk, umreißt seine Lebensumstände, sein Denken, sein Verhältnis zur Mitwelt, die Gewohnheiten, Vorlieben, Abneigungen. Locker, konzentriert und mit einem Schuss Humor schreibt er ein Büchlein, das man sich bündiger und informativer gar nicht denken kann.

Erich Trunz: Ein Tag aus Goethes Leben. 217 S., geb., 10 EUR. Goethe: Faust (Urfaust, Faust I, Faust II.). 777 S., geb., 8 EUR. Gedichte. 804 S., geb., 8 EUR. Italienische Reise. 748 S., geb., 8 EUR.
Gero von Wilpert: Goethe. Die 101 wichtigsten Fragen. 166 S., br., 9,90 EUR. Alle im Verlag C. H. Beck.
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